Knifflige Satzstrukturen, komplexe Bezüge und fehlende Buchstaben: Larissa Bender berichtet im Interview über die Arbeit an Khaled Khalifas neuem Roman „Keiner betete an ihren Gräbern“ und das Übersetzen aus dem Arabischen. INTERVIEW: TUĞRUL MENDE
Khaled Khalifas neuer Roman Keiner betete an ihren Gräbern erzählt die Geschichte einer mosaikhaften Region in Syrien, vom Osmanischen Reich bis zur Zeit der Unabhängigkeit in den 1950er Jahren. Die Leser:innen bekommen einen Einblick in eine Zeit, die fern und fremd, aber dennoch in gewisser Weise vertraut scheint. Ich spreche mit der Übersetzerin Larissa Bender über ihre Arbeit an diesem Roman.
Wie kamen Sie dazu, Khaled Khalifas Keiner betete an ihren Gräbern zu übersetzen?
Larissa Bender: Rowohlt ist auf mich zugekommen und hat mich gefragt, ob ich den neuen Roman von Khaled Khalifa übersetzen möchte. Ich hatte das Buch bereits für den Verlag begutachtet und kannte es also. Ich habe gleich zugesagt, denn ich mag Khalifas Romane. Schon seinen ersten langen Roman Lob des Hasses aus dem Jahr 2006 fand ich sehr besonders und wichtig. Damals fand sich leider – trotz mehrerer positiver Gutachten – kein deutscher Verlag, der das Buch machen wollte. Umso froher war ich, dass Rowohlt sich vor ein paar Jahren des Autors angenommen und in der Übersetzung von Hartmut Fähndrich die beiden Romane Der Tod ist ein mühseliges Geschäft und Keine Messer in den Küchen dieser Stadt herausgegeben hat.
Wie gehen Sie bei neuen Übersetzungen zu Anfang vor? Haben Sie bestimmte Methoden oder Rituale, die Ihnen helfen?
Ich muss gestehen, dass ich meistens von vorne anfange, denn ich muss mich langsam einarbeiten. Das mag für Leute, die keine Übersetzer:innen sind, kurios klingen, weil es selbstverständlich scheint. Aber es gibt den Tipp, mit dem Übersetzen eines Romans irgendwo im Buch oder bei einer einfachen Stelle zu beginnen, weil der Einstieg in einen Roman immer das Schwierigste ist. Ich habe das auch schon einmal ausprobiert, aber gerade bei so einem dicken Roman wie bei diesem letzten von Khalifa habe ich doch lieber vorne angefangen. Es gibt so viele Erzählstränge, Personen und Generationen, dass ich gar nicht gewusst hätte, welche Verbindung Figur X zu Figur Y hat, wenn ich mich nicht von Anfang an langsam vorgearbeitet hätte. Das Arabische ist zudem oft semantisch so nebulös, dass ich viele Wörter nur in ihrem jeweiligen Kontext verstehen kann. Es kann aber sein, dass der genaue Kontext eines Wortes erst viel später klar wird.
Als eine „Methode“ könnte man vielleicht bezeichnen, dass ich als erstes eine nahezu wörtliche erste Version anfertige, die im Großen und Ganzen grammatikalisch halbwegs richtig ist. Damit schaffe ich mir eine Grundlage, auf der ich aufbauen kann, und je nach Text brauche ich fünf bis sechs oder auch sieben Durchgänge, bis ich schließlich ein lesbares Manuskript erstellt habe.
Was waren Ihre ersten Gedanken zu Keiner betete an ihren Gräbern? Wodurch sticht der neue Roman im Gegensatz zu Khaled Khalifas anderen Romanen hervor?
Das kann ich gar nicht so genau sagen. Der Roman erinnert ein wenig an den bereits erwähnten Roman Lob des Hasses, was Umfang und Vielfalt der Erzählstränge betrifft.
Mich hat das Buch noch sehr lange beschäftigt, nachdem ich es zu Ende gelesen hatte. Der Roman erzählt die Geschichte einer Region über achtzig Jahre hinweg und schaut wie von oben auf diesen Landstrich. Die Leser:innen erhalten ein umfassendes Bild von dem, was – ganz banal – „Leben“ bedeutet: geboren werden, heiraten, Kinder bekommen, sterben, und dies mit all dem, was für die Mehrheit der Weltbevölkerung bedauerlicherweise dazu gehört: Katastrophen verschiedener Art wie Erdbeben, Überschwemmungen, Massaker und persönliche Tragödien, aber natürlich auch Glücksmomente. Wenn man sich gerade jene Region der Levante und die Zeit, in der der Roman spielt, ansieht, kann man beim Lesen des Romans schon auf den Gedanken verfallen, nach dem Sinn des Lebens überhaupt zu fragen.
Ich hatte den Roman zudem vorletztes Jahr, also im ersten Jahr der Pandemie, gelesen, in einer Zeit, in der unsere Luxusblase, in der wir hier in Europa leben, zu platzen drohte. Dieses Gefühl passte für mich recht gut zu der Stimmung in dem Roman. Die Erkenntnis, dass das Leben immer weiter geht, war – trotz ihrer Banalität – bis zu einem gewissen Grad beruhigend.
Was waren für Sie die schwierigsten Elemente bei der Übersetzung von Keiner betete an ihren Gräbern?
Mir stellte sich zum Beispiel die Frage, ob ich die Bezeichnungen der verschiedenen Mandatsträger im Osmanischen Reich, wie etwa den Titel Qaimmaqam, der ein bestimmter osmanischer Staatsbeamter ist, übersetzen oder die arabische Bezeichnung beibehalten soll? Oder ich musste herausfinden, ob die erwähnte Bank eine echte oder eine fiktive war. Oder ob der Name der Eisenbahngesellschaft richtig geschrieben war oder nicht – und falls nicht, ob es Absicht oder ein Versehen des Autors war? Das alles herauszufinden ist im Arabischen nicht ganz so leicht. Ich habe sehr viel recherchieren und über das Osmanische Reich lesen müssen.
Auch habe ich Kontakt zu Leri Price, der Übersetzerin ins Englische, aufgenommen. Sie war etwas vor mir fertig, aber wir konnten uns trotzdem noch gegenseitig helfen und über einige unklare Stellen austauschen. So etwa hatte sie den Namen einer Fürstin aus Venedig, den ich nicht gefunden hatte, herausbekommen. Dabei ist es vielleicht wichtig zu erwähnen, dass wir europäische Namen im Arabischen nicht immer gleich erkennen können. Denn im Arabischen werden europäische Namen annähernd so geschrieben, wie sie ausgesprochen werden, aber eben nur annähernd, weil es viele Buchstaben, Konsonanten wie auch Vokale, im Arabischen gar nicht gibt. Das ist oft ein ziemliches Rätselraten.
Belassen Sie manche Begriffe im Arabischen?
Wenn es geht, tendiere ich dazu, Äquivalente zu finden. Aber es gibt Wörter, die kann oder sollte man nicht eindeutschen. Ich belasse meist Wörter arabisch, die bereits Eingang in den Duden gefunden haben. So etwa das Wort Suk. Man könnte es als „Markt“ übersetzen, aber wenn ich in Aleppo auf den Suk gehe, ist es etwas ganz anderes, als wenn ich in Köln auf einen Wochenmarkt oder in die Fußgängerzone gehe. Im Arabischen ist es aber das gleiche Wort. Bei solchen Wörtern finde ich es hilfreich, wenn das arabische Flair ein bisschen mittransportiert wird.
Grundsätzlich versuche ich aber, nur wenige arabische Wörter zu benutzen, damit der Text keinen orientalisierenden Touch bekommt. Ich schreibe deshalb z.B. lieber Teigtaschen als das arabische Wort zu benutzen, das man im Deutschen nicht kennt und das ich dann erklären müsste, sei es im Text oder in einer Fußnote.
Inwiefern sagt der Roman etwas über das heutige Syrien aus?
Der Roman spielt zwar hauptsächlich zur Zeit des Osmanischen Reiches, aber die Erzählung reicht bis in die Zeit der Unabhängigkeit, also bis in die 1950er Jahre. Die syrische Gesellschaft hat sich in ihrer Zusammensetzung seither nicht sehr verändert, obwohl sie verschiedene politische Systeme durchlaufen hat. Meiner Meinung nach erfährt man durchaus etwas über das heutige Syrien – sowohl über die positiven Aspekte des Zusammenlebens als auch die negativen. Zum Beispiel werden Beziehungen noch immer wegen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit verhindert. Drusen dürfen beispielsweise nur innerhalb der Religionsgemeinschaft heiraten, aber das trifft auch auf andere Gruppierungen zu. Dieses Mosaikhafte der syrischen Gesellschaft ist bis heute präsent und spielt auch eine große Rolle im aktuellen Konflikt.
Inwiefern unterscheidet sich Khalifas Schreibstil von anderen syrischen Autor:innenen wie z. B. Samer Yazbek oder Dima Wannous, die Sie ebenfalls übersetzt haben?
Khaled Khalifa schreibt sehr lange Sätze und macht sehr wenige Punkte, so dass ich ziemlich oft recht lange überlegen musste, ob ein Halbsatz sich auf den vorherigen oder nächsten Satz bezieht. Und wo ich dann den Punkt zuerst in meinem Kopf und danach auf dem Papier mache. Diese Art von Sätzen kann ich im Deutschen nicht nachbilden, das würde niemand lesen wollen. Bei einigen Sätzen habe ich außerdem erst beim dritten oder vierten Lesen auf Deutsch gemerkt, dass etwas nicht stimmt, dass ich den Bezug ändern muss, indem ich den Punkt verschiebe. Diese Art des Schreibens ist mit dem Deutschen nicht sehr kompatibel, weshalb ich jeden Satz umformulieren muss.
Das ist bei den beiden anderen von Ihnen genannten Autorinnen, Dima Wannous und Samar Yazbek, etwas anders. Dima Wannous hat eine sehr präzise Sprache, und damit ist sie für mich auch einfacher zu übersetzen. Oder anders gesagt: Die Schwierigkeiten liegen in ihrem Fall woanders. Auch Samar Yazbek hat wieder eine andere Art zu schreiben, und deshalb ergeben sich für mich andere Übersetzungsprobleme.
Insgesamt übersetze ich syrische Literatur auf jeden Fall etwas leichter als etwa ägyptische, weil ich den sprachlichen Kontext besser kenne. Ich weiß, was einzelne Wörter in Syrien bedeuten oder wie sie gemeint sind. Bei ägyptischen Wörtern fehlen mir manchmal die Hintergrundinformation aus dem Alltag, weil ich nicht ganz so häufig in Ägypten war wie in Syrien. Man kann als Übersetzer:in sehr schnell aufs Glatteis geführt werden. Vielleicht hat man ein unbekanntes Wort zwar im Wörterbuch gefunden und vielleicht passt es sogar, doch dann fällt einem durch Zufall auf, dass es in dem jeweiligen Land anders gebraucht wird. Durch die Erfahrung entwickelt man natürlich irgendwann ein Gespür dafür, wo die Fallen lauern könnten.
Rowohlt ist ein großer Verlag. Wie kam die Zusammenarbeit zustande und hatte es etwas damit zu, dass der Roman für den Arabic Booker (IPAF) nominiert war? Oder hat der deutsche Markt sich der arabischen Literatur geöffnet?
Das ist recht kompliziert. Wie ein arabischer Titel zu einem Verlag kommt und warum sich ein Verlag entscheidet, ihn zu kaufen, ist oft nicht sehr durchsichtig. Dass man sich inzwischen mehr für Syrien interessiert, hat mit der politischen Situation in dem Land und mit den vielen syrischen Menschen zu tun, die mittlerweile in Deutschland leben. Früher stand eher die ägyptische Literatur im Fokus, die Maghrebstaaten, insbesondere aber auch die Golfstaaten sind bis heute vollkommen unterrepräsentiert.
Seit 2015 viele Geflüchtete aus Syrien, aber zum Teil auch Irak und Ägypten nach Deutschland kamen, hat sich einiges verändert. Viele der Geflüchteten haben hier begonnen zu schreiben, andere waren schon Schriftsteller:innen in ihren Heimatländern. Einige dieser ausländischen Autor:innen haben hier in Deutschland durch verschiedene Schreibprojekte viel Unterstützung erfahren, so dass die arabische Literatur etwas präsenter wurde. Dadurch haben sich auch mehr deutsche Verlage der arabischen Literatur geöffnet.
Mittlerweile haben wir sogar einen Mangel an Arabischübersetzer:innen. Es sind zwar ein paar Kolleg:innen hinzugekommen, aber da man vom Übersetzen aus dem Arabischen noch weniger leben kann als es bei anderen Sprachen der Fall ist, haben einige auch wieder aufgegeben. Hinzu kommt, dass es wirklich ein sehr mühsamer Prozess ist, bis man als Arabischlernender in der Lage ist, ein ganzes Buch, einen kompletten Roman zu lesen. Und um übersetzen zu können, sollte man schon ein Gefühl für diese Literatur entwickelt und einiges gelesen haben.
Haben Sie Ratschläge für junge Übersetzer:innen?
Das Wichtigste ist meiner Meinung nach, sehr viel lesen. Aber man sollte auch so oft wie möglich in die arabischen Länder reisen und mit den Menschen und ihrem Alltag in Kontakt kommen. Erst dann entwickelt man ein Gefühl für den Unterschied zwischen Hochsprache und gesprochener bzw. Umgangssprache und lernt ein Vokabular kennen, das nicht im Wörterbuch zu finden ist.
Hinzu kommt, dass man bereit sein sollte, sich selbst zu misstrauen und keine Scheu davor zu haben nachzufragen. Ich weiß aus Erfahrung, wie leicht sich Fehler einschleichen, gerade beim Übersetzen aus dem Arabischen, weil sich viele Buchstaben sehr ähneln. Man sollte sich an erfahrene Übersetzer:innen oder an Muttersprachler:innen wenden, aber natürlich auch die Autor:innen. Einige Autor:innen mögen es nicht besonders, wenn ihre Übersetzer:innen keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen, weil sie wissen, dass manche Sätze in ihren Texten erklärungsbedürftig sind.
Erwähnenswert sind natürlich auch die verschiedenen Stipendien und Fortbildungsmöglichkeiten insbesondere für Nachwuchsübersetzer:innen, die auf der Seite des Deutschen Übersetzerfonds (DÜF) zu finden sind.
Larissa Bender
Larissa Bender studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie in Köln, Berlin und Damaskus. Nach langjährigen Aufenthalten in Syrien arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Arabischen, Journalistin mit Schwerpunkt Syrien und arabische Literatur sowie als Dozentin für Arabisch. Sie ist Herausgeberin zweier Anthologien über Syrien, moderiert Veranstaltungen mit Autor:innen, erstellt Gutachten zu arabischer Literatur und berät Verlage und Kulturveranstalter.
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