Deutschland schweigt

Berlin hat in mir die Hoffnung geweckt, dass auch aus meinem Land Syrien die Diktatur verschwinden könnte. Trotzdem fand ich hier auf wichtige Fragen keine Antwort. Ein Gastbeitrag.

Bei meinem letzten dreiwöchigen Besuch in Berlin hatte ich genügend Zeit, um mich mit meinen deutschen und syrischen Freunden zu unterhalten, und konnte ihnen eine große Angst vor der Zukunft anmerken. Die Sorge vor dem Kommenden, die ich in Europa und besonders in Deutschland gespürt hatte, war äußerst erschreckend.

Khaled Khalifa during an interview with AFP at his home in Damascus on June 2, 2020 (Photo by LOUAI BESHARA/AFP)

Berlin, diese magische Stadt, machte einen erschöpften Eindruck und schien sich vor einem harten Winter und einer ungewissen Zukunft zu fürchten. Obwohl seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Dreivierteljahrhundert vergangen ist, scheint mir der Stadt noch immer der Geruch des Todes, der Verwesung und der Zerstörung anzuhaften. Noch immer hausen die Schreie der Opfer in den Bäumen, den Treppenhäusern und an den Ufern des Flusses. Noch immer wohnen die unvorstellbar schmerzhaften Erinnerungen in den Herzen der Menschen.

Meine tiefe Trauer und die Frustration, die mich schier überwältigte, konnte niemand verstehen. Stets hatte die Stadt Berlin in mir die Hoffnung geweckt, dass auch aus meinem Land eines Tages die Diktatur und ihre Kriege verschwinden würden, aus diesem meinem Land, das von der Welt im Stich gelassen worden war. Irgendwann würde das unbegreifliche Sterben ein Ende haben, und das Land würde leuchtend, strahlend und schön wiederauferstehen – genau wie Deutschland einst aus der Asche auferstanden war.

Doch bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit hatte Deutschland versäumt, einen Blick zurückzuwerfen, es hatte vergessen, dass es das Land der Philosophie gewesen war, bevor es zum Autoland wurde, das Land der großartigen Literatur, der Musik und der humanistischen Werte. Dass es das Land der schönen Dinge gewesen war, die, ungeachtet aller technischen Errungenschaften, nicht aufgegeben werden dürfen.

Wohlwollend entschuldigte ich die Deutschen, denn sie können stolz auf ihre Leistungen sein. Und ihre Erfahrungen können eine Inspiration für andere Länder wie die des Arabischen Frühlings sein. Hinzu kommt die Politik der offenen Türen, die Deutschland gegenüber den Flüchtlingen, insbesondere den Syrern, verfolgte. Aber genügt das Mitgefühl von mir, einem Besiegten und unwissenden Beobachter, der die Impertinenz der regierenden Politiker weltweit nicht wahrhaben wollte? Der stattdessen daran geglaubt hatte, das syrische Massaker würde eine Zäsur für das Moralempfinden in der Welt darstellen?

Ich lebe den Krieg noch jeden Augenblick

Seit uns Syrien aus den Händen geglitten und von der Bühne der Geographie und der Geschichte verschwunden und mein schönes Land zu Ruinen geworden ist, sind wir für die Welt nur noch Bewohner von Flüchtlingslagern, die vor nunmehr zwölf Jahren entstanden. Mehr noch, man stellte sogar Überlegungen an, wie all die Besatzer zufriedengestellt werden könnten. Europa ignorierte seine Werte, die es einem Land wie Russland verbieten, Syriens Kinder zu bombardieren, die Märkte zu zerstören und das Land in ein Versuchsfeld für russische Waffen zu verwandeln, gleichsam als befänden wir uns auf einer Waffenschau. Im Hinblick auf Syrien hat man diese Werte verdrängt, im Zusammenhang mit der Ukraine sind sie zum Glück wieder erwacht.

Ich unterschätze die Angst der Menschen vor einer Ausbreitung des Krieges und der Möglichkeit seines Umschlagens in einen offenen Konflikt nicht. Mein Herz schlägt für das ukrainische Volk und die zerstörten Städte dort. Ich kenne den Krieg und weiß, wie bitter er ist; ich lebe ihn noch immer jeden Augenblick. Seit Jahren träumen wir nicht mehr von warmen Wohnungen, und das Wort Hoffnung ist aus unserem Wortschatz verschwunden. Millionen Syrer haben sich auf eine tragische Reise begeben und irren ziellos umher, sie ertrinken in den Meeren oder werden in kalten Wäldern und öden Wüsten begraben. Und für Erdogan und seine Partner Iran und Russland, die gemeinsam daran beteiligt sind, ein ganzes Land und dessen Volk auszulöschen, sind sie nichts als eine Handelsware.

Warum hat Europa geschwiegen, als Russland Syrien besetzte?

Auch wenn es zu spät scheint, so müssen wir uns doch schließlich noch mit einigen Fragen beschäftigen, auf die es keine einfachen Antworten mehr gibt. Als der Krieg Russlands gegen die Ukraine näher kam, entstand für Europa plötzlich eine andere Situation, denn es macht einen gravierenden Unterschied für die Europäer aus, ob Russland in Syrien oder in der Ukraine bombardiert. Warum schwieg Europa, als die Amerikaner die Russen nicht daran hinderten, Syrien zu besetzen und in ein Versuchsfeld für unterschiedliche Tötungsmethoden zu verwandeln?

Warum schwiegen Europa und Deutschland jahrzehntelang über den Krieg in Syrien und die Lage der Menschenrechte in totalitären Regimen? Warum schwiegen sie, als Russland syrische Kinder bombardierte und tötete? Auch über das iranische Regime schwiegen sie, das Syrien, Libanon, den Jemen und den Irak zerstörte. Und natürlich werden sie auch schweigen, wenn dieses iranische Regime sein eigenes Land zerstört. Ich wünsche der iranischen Revolution nicht, dass sie das gleiche Schicksal erleidet wie die syrische, aber das Land wird zerrissen, und trotzdem wird die Welt das faschistische Mullah-Regime in Teheran unterstützen.

Vor den amerikanischen Karren gespannt

Die Welt schweigt sicher nicht nur aus Gleichgültigkeit oder wegen des russischen Gases oder der Wirtschaftspartnerschaft. Auch nicht, um die Märkte zu schützen, sondern aus Unfähigkeit, offen über die Abhängigkeit von der Politik der Vereinigten Staaten in den letzten fünfzig Jahren zu sprechen, eine Abhängigkeit, die sich zu einem Furunkel auf dem Körper Europas entwickelt hat. Denn Europa akzeptierte die Werte der Vereinigten Staaten, die lauthals verkündeten, die Welt könne nur mit Gewalt beherrscht werden. Europa – und mit ihm Deutschland – ist damit beschäftigt, den amerikanischen Karren vorwärtszuschieben, ohne dabei die unterschiedliche Geschichte seines ewigen Verbündeten in Betracht zu ziehen.

Jetzt, in diesem entscheidenden Augenblick, fehlt Deutschland die Zeit, um über die Unabhängigkeit seiner politischen Entscheidungen und über seine Allianz mit seinen Nachbarn zu diskutieren, die plötzlich entdeckten, dass Europa ein schwacher, abhängiger Kontinent ist, unfähig, irgendjemandem eine Entscheidung aufzuzwingen – nicht einmal in Bezug auf den Ukrainekrieg.

Ich habe mich immer gefragt und bis jetzt keine Antwort gefunden: Warum stellte sich Europa hinter die amerikanische Entscheidung, die Revolutionen im Arabischen Frühling nicht zu unterstützen, sondern sich stattdessen öffentlich auf die Seite der Diktaturen und der Konterrevolutionen zu schlagen? Europa ist ein wesentlicher Partner der Länder der Arabischen Revolutionen, die USA hingegen sind sehr weit entfernt, so weit, dass sie sich nur selbst im Spiegel sehen können. An dieser ersten Frage hängt eine lange Kette weiterer Fragen, ohne deren ehrliche Beantwortung wir keine andere Zukunft haben werden.

Aus dem Arabischen von Larissa Bender.

Khaled Khalifa wurde 1964 in Aleppo geboren und lebt in Damaskus. Zuletzt erschien auf Deutsch sein Roman „Keiner betete an ihren Gräbern“ (Rowohlt Verlag).

Published on FAZ here.

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FAZ
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